38

Als Clodagh am Sonntagmorgen erwachte, war sie an den äußersten Rand des Bettes verdrängt worden. Craig hatte ihr den Platz weggenommen, aber es hätte ebenso gut Molly sein können, oder beide. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie und Dylan das letzte Mal ungestört geschlafen hatten. Sie war es gewöhnt, über der Bettkante zu hängen, und war überzeugt, dass sie auf einer Felskante über einem Abgrund prächtig schlafen würde.

Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es sehr früh war. Fünf Uhr, so ungefähr. Die Sonne war schon aufgegangen, und in dem Spalt zwischen den Musselinvorhängen war das Licht gleißend hell, aber sie wusste, dass es zu früh war, um wach zu sein. Die Möwen vor dem Fenster, die sie nicht sehen konnte, schrien in klagendem Ton. Es klang wie die Schreie eines Babys aus einem Horrorfilm. Neben Craig lag Dylan im tiefen Schlaf, seine Arme und Beine waren wild über das Bett geworfen, sein Atem war ein regelmäßiges Pfeifen, und bei jedem Ausatmen flatterte eine Haarsträhne auf seiner Stirn.

Sie spürte eine große Niedergeschlagenheit. Eine schwierige Woche lag hinter ihr. Nach dem unglücklich verlaufenen Besuch bei der Arbeitsvermittlung hatte Ashling sie bedrängt, einen zweiten Versuch zu wagen. Also hatte sie sich das teure Kostüm wieder angezogen und war erneut losgezogen. In der zweiten Vermittlungsstelle wurde sie mit ähnlicher Herablassung behandelt wie in der ersten. Doch zu ihrer Überraschung schlug man ihr in der dritten Agentur vor, sie könne zwei Tage zur Probe in einer Heizkörperfirma arbeiten, wo sie das Telefon bedienen und Tee machen sollte. »Die Bezahlung ist... na, nicht besonders«, hatte der Vermittler gesagt, »aber für jemanden wie Sie, nach einer so langen Unterbrechung, ist es ein guter Anfang. Man wird Sie mögen, also probieren Sie es mal! Viel Glück!«

»Oh, schönen Dank.« Aber kaum hatte Clodagh einen Job, wollte sie ihn nicht mehr. Tee machen und das Telefon bedienen - wo war da der Spaß? Das machte sie zu Hause auch die ganze Zeit.

Und eine Firma für Heizkörper? Das klang so trostlos. Einen Job angeboten zu bekommen und zu merken, dass sie ihn nicht wollte, war seltsamerweise schlimmer, als gesagt zu bekommen, dass sie nicht vermittelbar sei. Obwohl sie nicht zu Selbstreflexion neigte, erkannte sie vage, dass es nicht ein Job war, den sie wollte - keinesfalls brauchte sie das Geld -, sondern Glanz und Aufregung. Und es lag auf der Hand, dass sie nichts davon in einer Heizkörperfirma finden würde.

Deshalb rief sie den Mitarbeiter in der Agentur an und erzählte ihm, sie könne nicht anfangen, weil Craig die Masern habe. Kinder hatten ihren Nutzen, stellte sie fest. Wenn man eine Entschuldigung brauchte, konnte man sagen, sie hätten Fieber und möglicherweise eine Hirnhautentzündung. So hatte sie sich letztes Jahr aus der Weihnachtsfeier in Dylans Firma herausgemogelt. Und im Jahr davor auch. Und sie hatte fest vor, es diesmal genauso zu machen.

Sie bewegte sich. Etwas Hartes bohrte sich ihr in den Rücken. Sie fühlte nach und ertastete Buzz Lightyear. Vor dem Fenster hörte sie wieder die Schreie der Möwen, und der schrille, trostlose Klang fand in ihr ein Echo. Sie fühlte sich gefangen, in eine Ecke verbannt, eingesperrt. Als wäre sie in eine kleine, luftlose Schachtel gesperrt, die sich immer enger um sie schloss - und sie verstand es nicht. Sie war immer zufrieden mit ihrem Schicksal gewesen. Ihr Leben war ganz nach Plan verlaufen, jeder Schritt war nach vorn gerichtet und positiv gewesen. Und dann plötzlich, ohne Warnung, hatte es aufgehört. Sie trat auf der Stelle, sie hatte nichts vor sich. Ein schrecklicher Gedanke nagte an ihr: Würde das jetzt immer so weitergehen?

Sie wurde gewahr, dass Dylans pfeifender Atem immer lauter wurde. Plötzlich konnte sie es nicht mehr ertragen und explodierte: »Hör auf zu atmen!« Mit einem groben Stupser schob sie seinen Kopf herum.

»tschuldigung«, murmelte er, ohne aufzuwachen. Sie beneidete ihn um seinen sorglosen Schlaf. Auf ihrer Seite des Bettes ausgestreckt hörte sie mit halbem Ohr den Möwen zu, bis Molly neben ihr ins Bett kletterte und ihr ins Gesicht patschte. Zeit aufzustehen.

Eine Blinddarmoperation, dachte sie sehnsüchtig, oder ein harmloser Schlaganfall. Nichts Schlimmes. Aber etwas, das einen langen Krankenhausaufenthalt erforderlich machte, mit sehr begrenzten Besuchszeiten.

Nachdem sie geduscht hatte und beim Abtrocknen war, sprach sie knapp und scharf mit Dylan, der gähnend auf der Bettkante saß. »Gib Craig bloß keine Frosties! Er hat die ganze Woche darum gebettelt, und dann hat er sie nicht angerührt. Übrigens, in unserer Straße wird eine neue Spielstube eröffnet, und wir sind alle eingeladen, sie uns heute anzusehen. Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn wir Molly aus ihrer vertrauten Umgebung nehmen, aber sie ist so unbeliebt in ihrer jetzigen Kindergruppe, dass es vielleicht eine gute Idee wäre -«

»Früher haben wir auch über andere Dinge gesprochen.« Dylan klang komisch.

»Zum Beispiel?«, fragte sie defensiv.

»Weiß nicht. Nichts, unterschiedlich. Musik, Filme, Leute ...«

»Was erwartest du denn?«, sagte sie verärgert. »Ich sehe ja niemanden außer den Kindern. Ich kann nichts dafür. Aber wo wir schon über andere Interessen sprechen - ich dachte, wir könnten mal renovieren.«

»Was willst du denn renovieren?«, fragte er angespannt.

»Unser Schlafzimmer.« Sie drückte Körperlotion aus der Tube und verrieb sie rasch auf der Haut.

»Es ist erst ein Jahr her, dass wir das Schlafzimmer gestrichen haben.«

»Mindestens anderthalb.«

»Aber...«

Sie zog sich die Unterwäsche an.

»Hier ist noch Creme.« Dylan beugte sich vor und verrieb die Creme auf ihrem Oberschenkel.

»Lass das!«, fuhr sie ihn an und schob seinen Arm weg. Seine Hand auf ihrer Haut machte sie wütend.

»Kannst du dich mal abregen?«, rief Dylan erregt. »Was hast du nur?«

Im Nachhinein machte ihre Heftigkeit ihr Angst. Sie hätte das nicht tun sollen. Und Dylans Ausdruck machte ihr noch mehr Angst - Ärger vermischt mit Verletzung.

»Es tut mir Leid, ich bin einfach müde«, sagte sie. »Es tut mir Leid. Kannst du versuchen, Molly anzuziehen?«

Molly anzuziehen, wenn sie nicht angezogen werden wollte, war so, als wollte man einen widerspenstigen Tintenfisch in ein Netz stecken.

»Nein!«, schrie sie und wand und drehte sich.

»Clodagh, hilf mir mal«, rief Dylan, als er versuchte, einen wild rudernden Arm in einen Ärmel zu stecken.

»Mummy, neiiiin!«

Während Clodagh Molly hielt, sprach Dylan mit begütigender, melodischer Stimme auf sie ein und erzählte ihr lauter Unsinn - wie hübsch sie aussehen würde, wenn sie ihre Hosen und das T-Shirt anhatte, und wie schön die Farben seien.

Als auch der zweite Schuh an Mollys sich sträubendem Fuß saß, lächelte Dylan Clodagh triumphierend zu.

»Mission erfüllt«, sagte sie grinsend. »Danke.«

Als Dylan gesagt hatte, sie sprächen über nichts anderes als die Kinder, war sie in Panik geraten. Aber wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass das zum Teil stimmte. Sie bewältigten die Aufgaben der Kinderbetreuung, Seite an Seite - fast wie Kollegen. Und warum sollte es nicht so sein, dachte sie, nach Rechtfertigung suchend. Sie hatten zwei Kinder - was sollten sie sonst tun?

Es kamen viele Besucher in den neuen Kindergarten. Als Clodagh durch die bunt angemalten Schwingtüren schritt - und leicht erschauderte -, war die erste Person, der sie begegnete, Deirdre Bullock, die den Schwarzen Gürtel der Müttergilde trug. Ihre Tochter, Solas Bullock, war das begabteste Kind der Welt.

»Du wirst es nicht glauben«, rief Deirdre aus. »Solas spricht jetzt schon in vollständigen Sätzen.«

Sie machte eine hässliche kleine Pause, bevor sie fragte: »Ist Molly auch schon so weit?« Solas war drei Monate jünger als Molly.

»Nein«, sagte Clodagh, und dann fügte sie von oben herab hinzu: »Molly verständigt sich mit uns lieber schriftlich.«

Wahrscheinlich würde man sie aus der Kaffeerunde der Mütter verstoßen, aber es hatte sich gelohnt, den entsetzten Blick auf Deirdres Gesicht zu sehen.

Am Montag hatte Clodagh eine gute Idee, wie sie ihre Stimmung aufhellen könnte. Sie würde sich mit Ashling für den Abend verabreden. Zusammen würden sie sich volllaufen lassen, wie in den guten alten Zeiten, vielleicht würden sie sogar in einen Club gehen, und sie hätte endlich Gelegenheit, ihre schönen neuen Kleider anzuziehen. Vielleicht die Palazzo-Hosen und die Tunika - aber was für Schuhe trug man dazu, fragte sie sich. Sie vermutete, dass klobige Schuhe mit Plateausohlen das Richtige wären, aber damit käme sie sich wahrscheinlich wie der letzte Idiot vor.

Ganz aufgeregt rief sie Ashling in der Redaktion an.

»Ashling Kennedy am Apparat.«

»Hier ist Clodagh. Oh.« Gerade war ihr etwas eingefallen. »Dein Freund Ted kam am Freitag hier vorbei, um sein Jackett abzuholen.«

»Das hat er mir erzählt.«

»Er ist eigentlich ganz nett, nicht? Ich dachte immer, er sei ein kleiner Kindskopf, aber wenn man ihn besser kennt, ist er gar nicht so übel, oder?«

»Hhmm.«

»Er hat mir erzählt, dass er Alleinunterhalter ist. Er hat mir sein Plakat gezeigt.«

»Oh.«

»Ich würde ihn sehr gern mal auf der Bühne sehen. Er hat gesagt, er gibt mir Bescheid, wenn er das nächste Mal auftritt. Aber vielleicht kannst du mich auf dem Laufenden halten.«

»Ja, gut.«

»Wie wär‘s, wenn wir heute Abend zusammen ausgingen? Wir könnten uns hemmungslos betrinken und vielleicht sogar tanzen gehen. Dylan kann bei den Kindern bleiben.«

»Ich kann leider nicht«, sagte Ashling entschuldigend. »Ich treffe mich mit Marcus. Meinem neuen Freund«, erklärte sie.

»Deinem Freund?«

»Ja, genau.« Der Stolz in Ashlings Stimme verblüffte Clodagh. »Wir haben uns erst zweimal gesehen, aber gestern haben wir den ganzen Tag zusammen im Bett verbracht, und er möchte sich heute Abend mit mir treffen.«

Clodagh fühlte sich in ihre Vergangenheit zurückversetzt und war von einer Welle der Nostalgie überspült. Mit erstaunlicher Klarheit erinnerte sie sich an die erste Erregung der Liebe. Und plötzlich, so schnell, wie das Gefühl gekommen war, verschwand es wieder und hinterließ ein unerklärliches Sehnen.

»Kannst du ihm nicht absagen?«, versuchte sie es.

»Nein«, sagte Ashling verlegen. »Ich habe gesagt, ich helfe ihm mit seiner Show. Er ist nämlich Alleinunterhalter, und -«

»Wie, er auch?«

»Und er möchte mit mir seinen neuen Stoff ausprobieren.«

»Und wie sieht es morgen aus?«

»Da habe ich meinen Salsa-Kurs.«

»Und Mittwoch?«

»Da gehe ich zu der Eröffnung von einem neuen Restaurant.«

»Hast du es gut!« Sie empfand den deutlichen Kontrast zwischen der Eröffnung eines neuen Spielstube, zu der sie selbst eingeladen war, und einer Restaurant-Eröffnung, zu der Ashling ging.

»Wie geht’s Dylan?«

Clodagh schnalzte ungehalten mit der Zunge. »Er arbeitet Tag und Nacht. Am Donnerstagabend ist er nicht da. Mal wieder! Er muss schon wieder zu einer blöden Konferenz. Vielleicht kannst du dann vorbeikommen? Wir könnten uns eine Flasche Wein holen und zusammen was essen?«

»Klar. Ein Frauenabend zu Hause.«

»Das ist das Einzige, was in meinem Leben passiert. Aber du sagst mir Bescheid wegen Ted, ja?«

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